Eine Geschichte

Am Tode vorbei

Im Januar 1921 beschloß ich unter dem frischen Eindruck der Schrecken des Bürgerkrieges, eine Oper zu schreiben. Als Vorlage diente mir das Drama des französischen Schriftstellers Francois Coppe,"Le Pater", das in der Zeit der französischen Kommune 1870/71 spielt. Von Januar bis März arbeitete ich fleißig an der Ouvertüre. Obwohl sie im traditionellen Stil geschrieben ist (die Stimmführung ist teils harmonisch, teils kontrapunktisch), halte ich sie auch heute noch für ein gelungenes Werk (op. 15). Sie enthalt viele "schwebende" Stellen, die zum Teil pentatonisch sind. Solche Partien nahmen im Laufe der Jahre in meinem Schaffen immer größeren Raum ein.

Anfang Marz war die Ouvertüre schon fast abgeschlossen. Es fehlten nur noch acht bis zwölf Schlußtakte. Unter dem Eindruck eines herrlichen Sonnenuntergangs schrieb ich nicht weiter, stand auf, ging ins Freie und nahm mir vor, die Ouvertüre am nächsten Morgen zu vollenden. Dies gelang mir nicht, denn am nächsten Morgen saß ich im Gefängnis.

Die Geschichte dieser Verhaftung ist eine meiner klarsten Erinnerungen, denn sie ist mit einem prophetischen Traum verknüpft. Drei Tage vorher hatte mir geträumt, ich sei auf dem Berg oberhalb Jaltas, wo mein Bruder Paul begraben lag; doch in meinem Traum war der Friedhof mit Stacheldraht umzäunt und diente als Lager für Pestkranke. Ich traf dort mehrere Bekannte, darunter unseren guten Freund Jelenew, den früheren Bürgermeister. Ich wußte, daß all diese Menschen die Pest hatten und sterben mußten, und fürchtete, angesteckt zu werden, sooft ich einem von ihnen die Hand gab. Doch überwand ich mich und begrüßte jeden, bis ich plötzlich meinen Bruder Michael erblickte, von dem ich seit seinem letzten Brief nichts mehr gehört hatte. Als Michael mir im Traum entgegentrat, wußte ich sofort, daß auch er ein Toter war. Trotz meiner Ergriffenheit und Angst wollte ich ihn umarmen und fragen, wie es ihm drüben gehe. Er nahm mich fest bei der Hand und antwortete mir, ohne ein Wort auszusprechen, nur mit dem Gedanken: Ich führe dich hinaus. Mit einigen Schritten waren wir außerhalb des Stacheldrahtes. Ich wollte Michael dankend umarmen, doch verwandelten sich seine Züge plötzlich in ein mir fremdes und sogar unsympathisches Gesicht.

Voll Aufregung erwachte ich. Ich erzählte den Traum sofort meinen Angehörigen, denn ich fühlte, daß er bedeutungsvoll war; doch meine Frau und auch meine Mutter versuchten, mir die trüben Gedanken zu verscheuchen: Was könne uns schon ein ' halbes Jahr nach dem Einmarsch der Roten widerfahren? Wir hätten doch glücklich alle Gefahren des Regimewechsels überstanden.

Als ich drei Tage später in der Nacht von Donnerstag auf Freitag zusammen mit meiner Frau, die im siebten Monat der Schwangerschaft stand, verhaftet wurde, mußte ich sofort an diesen Traum denken, zumal ich im GPU-Keller in der Winogradnaja Uliza, in den wir geworfen wurden, alle diejenigen traf, die ich im Traum als Verpestete gesehen hatte. Der einzige Unterschied war, daß nicht ich, sondern sie Angst hatten, mich als Bekannten zu begrüßen. Sehr bald mußte ich es aufgeben, mit ihnen vertraut zu sprechen. - Ohne jede Erklärung hielt man uns bis Sonntag früh im engen Keller fest. Um schlafen zu können, mußte man sich so auf den Boden legen, daß der Oberkörper auf den Beinen des Nachbarn lag. Der Raum hatte die Bodenfläche eines mittelgroßen Zimmers die Decke konnte man stehend mit der Handfläche berühren und war mit siebenundneunzig Menschen belegt.

Am Sonntagmorgen um sechs Uhr führte man uns alle mit zweihundert Soldaten Eskorte auf die Mole hinaus - wie uns die Soldaten sagten, zum Erschießen. Dieser Gang steht so lebendig in meiner Erinnerung, als wäre alles soeben erst geschehen. Ich kann sagen, daß mir das Leben und die Welt nie so unendlich schön vorgekommen sind, wie in jenen Minuten. Der laue Frühlingswind jagte schwere Wolken über den Himmel hin, und nur ab und zu brach die südlich blendende Sonne hindurch. Aus allen Gärten stieg Rosen- und Fliederduft empor. Ich hatte das Gefühl, alle Schönheit der Welt wie ein Schwamm in mich einzusaugen, ein glückseliges, ja berauschendes Gefühl, obwohl mir zu gleicher Zeit die schwangere Frau, die schwer neben mir her ging und all dies offenbar nur um meinetwillen erlitt, unendlich leidtat. (Dazwischen mußte ich an meine Ouvertüre denken, und hätte mir die Haare raufen können, daß ich zu leichtsinnig und faul gewesen war, um sie zu Ende zu schreiben). Mehrmals hatte ich den Gedanken, wenn irgendein Wunder uns am Leben erhalten sollte, würde ich die Frau, die neben mir herging, und das Kind, das sie trug, nie verlassen. Aber auch diesen, wie so manchen anderen ehrlichen Vorsatz habe ich nicht verwirklicht. (Das Töchterlein Ludmilla starb während der Hungersnot. Die Ehe zerbrach).

Es dauerte eine Weile, bis man uns alle an der Mauer der Mole aufgestellt hatte. Die Erschießung schob sich zu unserem Glück dadurch hinaus, daß immer wieder einzelne Frauen ohnmächtig wurden und aufgerichtet werden mußten. Diese Verzögerung war unsere Rettung, denn plötzlich erschien wie im Märchen ein berittener Bote, der schon von fern ein weißes Tuch schwenkte und uns alle zurück in den Keller beorderte.

Noch am selben Tag wurde ich um fünf Uhr nachmittags vor den Untersuchungsrichter geführt. Als ich den Raum betrat und den Richter sah, wußte ich sofort, daß ich gerettet war; denn er hatte das Gesicht, das mein Bruder Michael am Ende meines Traumes angenommen hatte. Diese Tatsache nahm mir alle Hemmungen, und ich konnte voll Vertrauen und Zuversicht mit ihm sprechen. Er legte mir auch einige für mich günstige Aussagen in den Mund. Zum Beispiel fragte er mich: "Warum haben Sie in Deutschland und nicht in Rußland studiert? Sie waren wohl revolutionär gesinnt und durften keine russische Hochschule besuchen?"

Nach diesem Verhör wurde ich abends um sieben Uhr freigelassen und traf im Gefängnis meine ebenfalls entlassene Frau. Wir gingen, nein, wir liefen voll Glück nach Hause. Dort erwartete uns eine neue Überraschung: Eine uns unbekannte schwarzhaarige Jüdin fiel mir um den Hals und küßte mich weinend und lachend ab. Ich war mindestens so verblüfft wie meine Schwiegermutter und meine Frau. Es war für mich nicht ganz leicht zu begreifen, daß es sich um eine Schauspielerin handelte, die ich anderthalb Jahre vorher mehrmals in meinen Theaterkritiken gelobt hatte - und zwar nicht einmal aus Überzeugung, sondern nur, um diese mittelmäßig begabte junge Dame, die ich nicht einmal kannte, aufzumuntern. Nun erfuhr ich, daß meine Berichte ihr die glücklichsten Stunden ihres Lebens beschert hatten, da ihre Angehörigen gegen ihre Schauspielerei gewesen waren. Jetzt war sie die Frau des einflußreichen Kommissars für Ernährungswesen geworden und hatte durch ihn erreicht, daß man mich und alle mit mir Verhafteten nicht ohne Gerichtsverhandlung erschoß, sondern ordnungsgemäß eine Untersuchung einleitete. Fast alle wurden freigesprochen, doch hatten sie sich in dem Gefängniskeller Flecktyphus zugezogen. Die meisten starben bald nach der Entlassung, darunter auch unser lieber alter Freund Jelenew. Meine Frau und ich waren die einzigen, die nicht angesteckt wurden.

Am nächsten Tage beendete ich meine Ouvertüre (op. 15). Ganz unerwartet für mich kam auch bald ihre Uraufführung im Klavierauszug zustande, und zwar im Frühjahr 1921 zur Eröffnung der Gedächtnisfeier für die Opfer der Pariser Kommune.

Nebenher setzten meine Frau und ich im Sommer 1921 besonders eifrig das Aufzeichnen der litauischen Lieder fort, deren Texte wir ins Russische übersetzten (op. 13). Viele der im ganzen 135 Lieder verwendete ich sogleich für musikalische Einlagen in Dramen, z. B. für die Chöre zu "Fuente ovejuna" von Lope de Vega , die ich auf Bestellung des Schauspielhauses in Jalta schrieb. In diesen Sommer fällt auch die Aufzeichnung von Tänzen der Krimtataren. Der bekannte tatarische Volkstänzer Chairi hatte mich gebeten, seine Melodien aufzuschreiben und für das kleine Symphonieorchester zu setzen, das damals in Jalta zur Verfügung stand. Chairi sang sicher und ausdrucksvoll. Die Arbeit fesselte mich. In meiner Bearbeitung füllten die Tänze ungefähr eine halbe Stunde. Leider besitze ich nur noch einige Skizzen davon. Eine der damals aufgezeichneten Melodien steht am Ende meiner veröffentlichten Sammlung "Lieder und Tänze der Randvölker Rußlands" (op. 20). In den zehn Sitzungen, die wir zum Aufzeichnen der Weisen benötigten, hat sich mir Chairis große Gestalt eingeprägt, seine Adlernase und die feurigen Augen unter den buschigen Brauen. 1923 traf ich ihn wieder in der Sowjetbotschaft in Berlin; damals gab er in Westeuropa Gastspiele.

Kollegialität im "Hause der Komponisten" und Lehrtätigkeit in Moskau

Obwohl ich als ehemals Verhafteter Jalta eigentlich nicht verlassen durfte, suchte ich in Moskau nach einer Stellung, die mir die Bezeichnung "unersetzlicher Arbeiter" verschaffen würde. - Dabei half mir mein strenger Kritiker Bugoslawskij. Bei meinem Besuch freute er sich lebhaft über unser Wiedersehen und machte mich schon am Donnerstag danach im "Hause der Komponisten" mit meinen Moskauer Kollegen bekannt; ich spielte ihnen meine Werke vor. Die Variationen in E-Dur (op. 10) wurden als "konventionell" abgetan; dagegen fand das Stück "Nacht im Hochgebirge" (op. 9) lebhaften Anklang und gab bei meiner Aufnahme in den Verband der russischen Komponisten den Ausschlag. Bemerkenswert ist, daß dasselbe Stück, das seinerzeit "bei den Petersburger Professoren auf gar kein Verständnis gestoßen war, fünf Jahre später in Moskau als "selbständig und originell" besonderes Interesse fand. Das Verhältnis der Moskauer Komponisten zueinander war kameradschaftlich. Jeden Donnerstag konnte man sich im "Hause der Komponisten" treffen. Bei Tee und Butterbroten pflegte man einen regen Gedankenaustausch. Am Schaffen der anderen nahm man lebhaften Anteil. Jederzeit konnte man einzeln oder in Gruppen in einem der eigens dafür vorgesehenen Räume die neuen oder auch erst im Entstehen begriffenen Werke der Kollegen, von ihnen selbst vorgespielt, kennenlernen. Diese Aufgeschlossenheit füreinander war wohltuend aufrichtig und neidlos. Bugoslawskij war es auch, der mich als Lehrer für Klavier und Musiktheorie (Harmonie- und Formenlehre) an eine Abteilung des Moskauer Konservatoriums, das sogenannte "Musikalische Technikum des Baumannsehen Bezirks", empfahl. Dort erhielt ich auch die Bescheinigung, daß ich "unersetzlicher Arbeiter" sei.

Das Unterrichten am Konservatorium machte mir Spaß: Es waren meist begabte und begeisterte Schüler, darunter etwa ein Drittel Arbeiter, die erst um sechs Uhr abends aus den Fabriken ins Konservatorium kamen, wo sie einen Imbiß und heißen Tee bekommen konnten. Sie blieben bis zehn oder halb elf Uhr nachts. Diese Zeit war ganz mit Unterricht und Oben ausgefüllt. Früh am nächsten Morgen standen sie wieder an ihrer Maschine. Sie waren voller Glück über ihr Studium.

Abschied von Rußland

Bald ging ich an die Verwirklichung meiner Auswanderungspläne. Ich schrieb an meine Lehrer Pauer und Wiehmayer und bat sie, mir zu helfen, nach Deutschland zurückzukehren. Beide Professoren antworteten sehr herzlich. Wiehmayer erwirkte die Drucklegung meines Andante con variazioni in einem angesehenen deutschen Verlag. Die Unkosten übernahm mein Bruder Andreas. Das Korrekturlesen gab mir den erwünschten Vorwand, mich um die Ausreise zu bemühen.

Max von Pauer tat noch mehr. Er schrieb persönlich an den Kommissar für Volksaufklärung, Lunatscharskij, und bat ihn, mir den Abschluß meiner musikalischen Bildung in Deutschland zu ermöglichen.

Die Chancen, eine Ausreisegenehmigung nach Deutschland zu bekommen, vergrößerten sich, als Alexandra Kollontaj mir erlaubte sich in den Fragebögen auf sie zu berufen. Während Lunatscharskij, von dem ich einen Text als Rhythmodeklamation vertont hatte, meine Order unterschrieb, bat er mich lächelnd: "Schelten Sie uns draußen nicht allzu sehr."

Die helle russische Sonne strahlte über den malerischen Wäldern und Sümpfen und gab ihnen ein ganz anderes Aussehen als ähnlichen Wäldern in Westeuropa. Die Natur hat in Rußland etwas Berauschendes.

Erst als ich mit meiner Mutter in Riga den Zug verließ, fühlte ich, wie erschöpft und müde ich war. Monatelang hatte ich meine Kompositionsaufträge nur auf Kosten der Nachtruhe erledigen können. Die Nacht, die auch meine Mutter dringend zum Ausruhen brauchte, verbrachten wir in Riga. Einen Tag blieben wir noch, um unseren früheren Petersburger Hausarzt, Dr. Wiechert, zu finden. Wir sprachen mit ihm etwa zwei Stunden in einem Cafe; dabei gab er mir einen Vorgeschmack der Schwierigkeiten, die ein Auswanderer durchzustehen hat. Wiechert, der in Petersburg Chefarzt der chirurgischen Abteilung eines großen Krankenhauses gewesen war, schlug sich in Riga nur mit Mühe durch. Er war sehr gealtert, hatte alle Energie und Lebensfreude eingebüßt und klagte über die Deutschfeindlichkeit der national eingestellten Letten. Als wir ihn fragten, warum er nicht nach Deutschland zurückkehre, sagte er: "Unter Landsleuten ist die Gleichgültigkeit noch größer und der Konkurrenzkampf noch schlimmer als in der Fremde. Man bleibt einfach links liegen." Diese Resignation erschreckte mich an dem früher so lebhaften und tatkräftigen Manne.

Am nächsten Morgen reisten wir durch Litauen, die Heimat meiner ersten Frau. Der Anblick des halbzerstörten Landes, der vielen brachliegenden Felder, der armseligen Dörfer, deren Häuser meist nur mit Stroh gedeckt waren, ergriff mich, und ich entschloß mich, ihr einen letzten ausführlichen Brief zu schreiben. "Liebe Wanda, ich weiß nicht, wie Du zur Zeit von mir denkst. Jedenfalls kann ich Rußland nicht verlassen, ohne Dir diesen letzten Gruß zu schicken. Ich wollte Dir vor allem sagen, daß die Tatsache, daß unsere Beziehung Dir viel Kummer bereitet hat, schwer auf mir lastet; daß ich aber auch lebhaft alles Schöne, was Deine Freundschaft mir gegeben hat, im Gedächtnis behalte und mich an nichts erinnern kann - nicht nur nicht will was an Deinen Worten bei unseren Begegnungen mich hätte schmerzlich berühren können. Ich Wünschte mir, es ginge Dir auch so, doch weiß ich, daß ich es nicht verdient habe. Und wenn ich es auch vielleicht nicht verdient habe, muß ich Dir doch sagen, daß ich die Zeit unserer Ehe immer in dankbarer und herzlicher Erinnerung behalten werde."

In diesem Augenblick blickte meine Mutter mir über die Schulter und sagte: "Ich glaube, du bist völlig verrückt geworden." Ich schrieb weiter: "Wir fahren gerade durch Deine arme Heimat, der man sogar aus dem Eisenbahnwagen die Wehen des Krieges, der so viel zerstört hat, ansieht. Aber die Menschen, die hier einsteigen und uns nach einigen Stationen wieder verlassen, sehen gesund und voller Lebensmut aus, wenn sie auch ärmlich gekleidet sind. Ich empfinde immer stärker, daß Dein Platz nicht in Rußland, sondern hier in diesem von Dir und den Deinen so heiß und innig geliebten Land ist, und ich wäre froh, wenn ich einmal erfahren dürfte, daß Du wieder in Kowno, von der Anerkennung Deiner Mitmenschen getragen, lebst und wirkst. Es würde mich freuen, wenn Du aus diesem Brief, was Du für richtig hältst, auch Deinen Angehörigen mitteilen wolltest."

Einige Jahre später erfuhr meine Schwester Marie von einer später aus Jalta nach Tunis ausgewanderten Bekannten, daß Wanda sich über diesen Brief sehr gefreut und ihn mehreren unserer Freunde gezeigt hatte. Sie ist dann auch einige Jahre später mit ihrer Mutter und Schwester - der Vater war in Jalta gestorben - nach Litauen zurückgekehrt und hat dort jahrelang als angesehene Zahnärztin gewirkt. Da sie aber vaterländisch und sozialistisch gesinnt war und nicht mit ihren Überzeugungen zurückhielt, wurde sie im Jahre 1941 oder 1942 von der deutschen SS unter einem nichtigen Vorwand erschossen. Davon berichtete mir ausführlich ihr nach Kriegsende aus Litauen geflüchteter Vetter. - Oft muß ich denken, daß ich, wenn auch nur mittelbar, durch meinen letzten Brief an ihrem Tode mitschuldig geworden bin.